Der
Erste Senat des BVerfG hat heute vier Urteile verkündet, die sich
mit verschiedenen Aspekten der Pflegeversicherung befassen. Zum
rechtlichen Hintergrund wird auf die Pressemitteilung Nr. 83/2000
vom 20. Juni 2000 verwiesen, die auf Anfrage gern übersandt wird.
Im Wesentlichen geht es um:
die gesetzliche Verpflichtung für privat Krankenversicherte, überhaupt
einen privaten Pflegeversicherungsvertrag abzuschließen (a);
die Frage, ob eine kleine Gruppe, die, weil sie nicht
krankenversichert ist, von der Pflegeversicherung ausgeschlossen
werden darf (b);
die Berücksichtigung von Betreuung und Erziehung von Kindern bei
der Bemessung der Beiträge/Prämien (c und d);.
die Prämienhöhe in der privaten Pflegeversicherung (d).
a) In dem Verfahren 1 BvR 2014/95 hat sich eine Rechtsanwältin
(Beschwerdeführerin; Bf) unmittelbar gegen das SGB XI gewandt,
soweit es den gegen Krankheit privat Versicherten den Abschluss
einer privaten Pflegeversicherung vorschreibt. Sie hat die
Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1
GG) und des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) geltend
gemacht.
Der Erste Senat hat die Verfassungsbeschwerde (Vb) zurückgewiesen
und zur Begründung im Wesentlichen festgestellt:
1. Der Bund hat die Gesetzgebungskompetenz zum Erlass der
angegriffenen Vorschriften. Für die soziale Pflegeversicherung
folgt dies aus der Bundeskompetenz für das Gebiet der
Sozialversicherung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Hinsichtlich der
privaten Pflegeversicherung kann der Bund den Kompetenztitel
"privatrechtliches Versicherungswesen" als Teil
des"Rechts der Wirtschaft" in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG
in Anspruch nehmen. Unter diesen Oberbegriff fallen Regelungen
jedenfalls dann, wenn
- sie Versicherungsunternehmen betreffen, die im Wettbewerb mit
anderen durch privatrechtliche Verträge Risiken versichern,
- die Versicherungsprämien grundsätzlich am individuellen Risiko
und nicht am Einkommen des Versicherungsnehmers ausgerichtet sind
und
- Leistungen im Versicherungsfall aufgrund eines kapitalgedeckten
Finanzierungssystems erbracht werden.
Die Kompetenznormen in Art. 74 Abs. 1 GG sind nicht statisch. Der
Gesetzgeber kann sich deshalb auch dann auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11
GG stützen, wenn bei einem neuen Typ von Versicherung Leistungen
des sozialen Ausgleichs vorgesehen werden und während einer Übergangszeit
die das private Versicherungswesen prägenden Merkmale nur
begrenzt wirken.
Die entsprechenden Regelungen des SGB XI erfüllen die oben
dargestellten Kriterien. Die private Pflegeversicherung beruht auf
einem Vertrag, der nach den Vorschriften des Bürgerlichen
Gesetzbuches (BGB) und ergänzend des
Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) zustande kommt. Die
verschiedenen Krankenversicherungsunternehmen, die eine private
Pflegepflichtversicherung anbieten, stehen im Wettbewerb mit
einander. Eine gesetzliche Versicherungspflicht und als deren
Gegenstück der Kontrahierungszwang für das
Versicherungsunternehmen sind dem Privatrecht nicht fremd.
Gleiches gilt für gesetzlich vorgesehene Mindestleistungen.
Allerdings ist in der Einbeziehung bereits Pflegebedürftiger in
die Versicherungspflicht ein wesentlicher Unterschied zum
allgemeinen Versicherungsvertragsrecht zu sehen. Diese Abweichung
ist aber jedenfalls als Übergangsregelung von der
Gesetzgebungskompetenz umfasst. Der Senat setzt sich mit weiteren
Regelungen auseinander, in denen das Pflegeversicherungsgesetz
signifikant von herkömmlichen Privatversicherungen abweicht. Dies
gilt für die Prämiengestaltung (Prämienfreiheit für Kinder,
zum Teil erhebliche Prämienvergünstigungen für pflegenahe Jahrgänge
sowie nicht oder wenig verdienende Ehegatten und ältere
Versicherte) sowie für die Umlage der Versicherungsunternehmen
zum Ausgleich der durch diese Vergünstigungen entstehenden
Unterdeckung. Dennoch stellt die private Pflegeversicherung eine
Individualversicherung i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG dar, weil
die Prämien grundsätzlich nicht nach dem Einkommen, sondern nach
dem Alter der Versicherten und damit nach dem
versicherungsmathematischen Risiko erhoben werden. Dies bestätigen
die beigezogenen Daten, wonach die Prämien nach dem Lebensalter
der Versicherungsnehmer erheblich variieren. Damit bleibt
insgesamt das Bild einer risikoorientierten Gestaltung der
privaten Pflegeversicherung gewahrt, zumal die Prämienvergünstigungen
nach einer Übergangszeit abnehmen werden.
Nach
oben
2. Die angegriffenen Vorschriften sind auch materiell mit Art. 2
Abs. 1 GG vereinbar.
Zweck der Pflegeversicherung ist ein legitimer Gemeinwohlbelang: Fürsorge
für Pflegebedürftige ist eine soziale Aufgabe der staatlichen
Gemeinschaft. Der Staat soll die Menschenwürde in der Situation
der Pflegebedürftigkeit wahren. Er hat legitimer Weise auf ein
Konzept zurückgegriffen, wonach die finanziellen Mittel hierfür
durch eine Pflichtversicherung aller Bundesbürger aufgebracht
werden. Die Regelungen zur Einführung der Pflegeversicherung sind
auch verhältnismäßig. Die Einführung einer alle Bürger
umfassenden Versicherung ist geeignet, das dargelegte Ziel zu
erreichen. Dies gilt auch dann, wenn die Leistungen im Pflegefall
begrenzt sind und vor allem in Fällen stationärer Pflege nicht
ausreichen. Durch die Pflegeversicherung fördert der Gesetzgeber
mittelfristig das Entstehen einer leistungsfähigen und
bedarfsgerechten Pflegestruktur. Auch dies wird durch die dem
Senat vorliegenden Daten bestätigt. Der Gesetzgeber durfte von
der Erforderlichkeit einer die ganze Bevölkerung umfassenden
Pflichtversicherung ausgehen, da große Teile der Bevölkerung
mangels "Versicherungsdrucks" nicht bereit waren, sich
freiwillig gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit zu
versichern. Gleichermaßen durfte der Gesetzgeber alle Bürger in
die Pflichtversicherung einbeziehen, auch wenn das Pflegerisiko
erst im Alter signifikant ansteigt. Das Risiko als solches besteht
für alle Bürger und kann sich, angefangen von Schädigungen bei
der Geburt bis hin zu Unfällen, bei jedem jederzeit
verwirklichen. Die Einbeziehung auch jüngerer Menschen in die
Versicherungspflicht ist daher sachgerecht. Dies gilt umso mehr,
als die Pflegebedürftigkeit, wenn sie in jungem Alter eintritt,
die Betroffenen und ihre Angehörigen besonders hart trifft und
finanziell und physisch überfordern kann. Schließlich sind die
Regelungen über die Pflegeversicherung verhältnismäßig im
engeren Sinne. Durch die Versicherungspflicht wird ein
Lebensrisiko mit meist nicht finanzierbaren Folgen durch
vergleichsweise niedrige Prämien kalkulierbar und im
Versicherungsfall tragbar. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
gebot auch nicht, die bereits Pflegebedürftigen und die
pflegenahen Jahrgänge generell der sozialen Pflegeversicherung
zuzuweisen, um jüngeren privat Versicherten niedrigere Prämien
zu ermöglichen. Bei dieser Lösung hätten die nur wenig oder
durchschnittlich Verdienenden allein die Umlage für alle Menschen
mit hohem Pflegerisiko (auch die privat Krankenversicherten)
tragen müssen. Dies ist nicht geboten; der Gesetzgeber durfte die
entsprechende Last auf beide Versicherungszweige (die private und
die soziale Pflegeversicherung) aufteilen.
b) Das Verfahren 1 BvR 81/98 betrifft diejenigen Bundesbürger,
die nicht in der sozialen oder privaten Pflegeversicherung
pflichtversichert sind. Hierbei handelt es sich um rund 2 % der
Bevölkerung, die weder gesetzlich oder privat krankenversichert
sind noch die Möglichkeiten der freiwilligen Weiterversicherung
nach § 26 SGB XI in Anspruch nehmen können. 90 % dieser Gruppe
sind Sozialhilfeempfänger, die Anspruch auf Krankenhilfe nach dem
BSHG haben. Bei den restlichen rund 150.000 Bürgern handelt es
sich um Menschen, die weder krankenversichert sind noch
leistungsberechtigt nach dem BSHG. Sie können nach dem SGB XI
nicht freiwillig Mitglied der sozialen Pflegeversicherung werden
und haben auch keinen Anspruch gegen private
Krankenversicherungsunternehmen auf Abschluss eines
Pflegeversicherungsvertrages. Der Bf, der seit Kindesbeinen
geistig und körperlich behindert ist, gehört zu dieser Gruppe.
Nach dem Urteil vom heutigen Tage verstößt es gegen den
allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), dass der
Gesetzgeber schutzbedürftige Personen ohne
Krankenversicherungsschutz vom Zugang zur gesetzlichen
Pflegeversicherung ausgeschlossen hat, die als Volksversicherung
angelegt ist. Diesen Personen ist zumindest ein Beitrittsrecht
einzuräumen.
1. Der Senat führt zur Begründung zunächst aus, dass
verfassungsrechtlich keine Bedenken dagegen bestehen, die
Versicherungspflicht in der Pflegeversicherung grundsätzlich an
das Bestehen eines gesetzlichen oder privaten
Krankenversicherungsschutzes zu knüpfen. Bei der Einführung der
Pflegeversicherung als "Volksversicherung" wollte der
Gesetzgeber eine Versicherungspflicht nur für diejenigen Personen
begründen, deren Erfassung mit einem vertretbaren
Verwaltungsaufwand zuverlässig möglich war. Das Ziel einer möglichst
praktikablen Umsetzung des Gesetzes, die aufwendige
Feststellungsverfahren zur Ermittlung der Versicherungspflichtigen
vermeidet, rechtfertigt es, dass der Gesetzgeber nicht die gesamte
Wohnbevölkerung in Deutschland ausnahmslos gleichbehandelt und
der Versicherungspflicht unterworfen hat. Er war nicht durch Art.
3 Abs. 1 GG gehalten, zur Verwirklichung einer lückenlosen
Versicherungspflicht alle bisher nicht als Leistungsempfänger
durch Versicherungsträger oder Sozialbehörden erfassten Personen
ermitteln zu lassen.
2. Art. 3 Abs. 1 GG ist aber dadurch verletzt, dass der
Gesetzgeber Personen wie dem Bf nicht auf andere Weise ein
Zugangsrecht zur gesetzlichen Pflegeversicherung verschafft hat.
Dies wäre etwa durch die Einräumung des Rechts möglich gewesen,
innerhalb einer bestimmten Frist nach Inkrafttreten des SGB XI
freiwillig der sozialen Pflegeversicherung oder einer privaten
Pflegeversicherung beizutreten. Ein solches Recht erfordert keine
Ermittlungen über den betroffenen Personenkreis. Es ist Sache der
Betroffenen, sich zu melden und entsprechende Anträge zu
stellen.Wie der Senat näher ausführt, gibt es keine
hinreichenden Gründe, die der Gewährung eines Zugangs zur
gesetzlichen Pflegeversicherung entgegengesetzt werden könnten.
Dem Gesetzgeber stehen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, den
Gleichheitsverstoß beim Zugang zur gesetzlichen
Pflegeversicherung zu beseitigen. Ihm ist eine Übergangsfrist bis
zum 31. Dezember 2001 eingeräumt um sicherzustellen, dass der
Personenkreis, zu dem der Bf gehört, der gesetzlichen
Pflegeversicherung mit Wirkung zum Zeitpunkt des Inkrafttretens
des SGB XI beitreten kann. Für die Ausübung des Beitrittsrechts
kann der Gesetzgeber eine Frist bestimmen und den Beitritt davon
abhängig machen, dass der Betroffene Beiträge oder Prämien
entrichtet. Für den Zeitraum vor der Bekanntgabe dieses Urteils
ist es verfassungsrechtlich nicht geboten, seitens des
Gesetzgebers die Zahlung von Beiträgen oder Prämien und die Gewährung
von Leistungen vorzusehen. Sofern die Leistungsgewährung an
Vorversicherungszeiten geknüpft wird, ist sicherzustellen, dass
die Betroffenen nicht schlechtergestellt werden, als hätte der
Gesetzgeber ihnen bereits mit dem Inkrafttreten des SGB XI ein
Beitrittsrecht eingeräumt.
Nach
oben
Der Senat weist im Übrigen darauf hin, dass der Gesetzgeber auf
der Grundlage dieses Urteils prüfen muss, ob ein Beitrittsrecht
zur gesetzlichen Pflegeversicherung auch solchen Personen einzuräumen
ist, die nach dem Inkrafttreten des SGB XI keinen den Zugang zur
gesetzlichen Pflegeversicherung begründenden Tatbestand erfüllen
und im Pflegefall keinen Anspruch auf Hilfe gegen ein
Sozialleistungsträger haben.
c) Das Verfahren 1 BvR 1629/94 betrifft die Beitragshöhe in der
sozialen Pflegeversicherung. Der Bf, ein verheirateter Vater von
zehn Kindern, hat sich dagegen gewandt, dass Betreuung und
Erziehung von Kindern bei der Bemessung des Beitrags zur sozialen
Pflegeversicherung nicht berücksichtigt werden. Dies verletze
insbesondere Art. 3 und 6 GG sowie das Rechts- und
Sozialstaatsprinzip.
Nach dem heutigen Urteil ist es mit Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6
Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, dass Mitglieder der sozialen
Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen, mit einem
gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder
belastet werden. Die entsprechenden Regelungen des SGB XI (§ 54
Abs. 1 und 2, § 55 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2, § 57 SGB XI) sind
mit dem GG nicht vereinbar. Sie können bis zu einer Neuregelung,
längstens bis zum 31. Dezember 2004, weiter angewendet werden.
1. Der Senat stellt zunächst klar, dass die Pflicht zur Förderung
der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG nicht bereits dadurch verletzt
wird, dass überhaupt Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung
von Eltern, die Kinder betreuen und erziehen, verlangt werden.
Zwar werden Familien von finanziellen Belastungen, die der Staat
seinen Bürgern auferlegt, regelmäßig stärker betroffen als
Kinderlose. Sie haben den Unterhaltsanspruch ihrer Kinder zu
finanzieren, können jedoch andererseits durch die Kinderbetreuung
nicht in gleichem Umfang erwerbstätig sein wie Kinderlose oder müssen
die Fremdbetreuung ihrer Kinder bezahlen. Aus Art. 6 Abs. 1 GG
folgt aber nicht, dass der Staat jede zusätzliche finanzielle
Belastung von Familien vermeiden muss. Es ist daher nicht
verfassungswidrig, dass der Erzieler des Familieneinkommens
beitragspflichtig ist; der Staat muss diese Beitragslast auch
nicht ausgleichen. Ob die staatliche Familienförderung
offensichtlich unangemessen ist und dem Förderungsgebot aus Art.
6 Abs. 1 GG nicht mehr genügt, ist eine Frage der Gesamtabwägung.
Art. 6 i.V. m. dem Sozialstaatsgebot gibt lediglich eine
allgemeine Pflicht zum Familienlastenausgleich vor. Es liegt
innerhalb des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers, wie er
dieser Pflicht nachkommt. Mit einer Regelung, nach der auch
Familien Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung zahlen müssen,
sind die Grenzen des Gestaltungsspielraums nicht überschritten.
2. Eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG lässt
sich auf der Leistungsseite der sozialen Pflegeversicherung
ebenfalls nicht feststellen. Kinderlose erhalten im Durchschnitt
nicht mehr Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung als
Eltern. Der Senat setzt sich in diesem Zusammenhang insbesondere
mit der Frage auseinander, ob der Aufwand der Pflegeversicherung
bei Pflegebedürftigen, die Kinder erzogen haben, geringer ist als
bei Kinderlosen. Unterschiede sind insofern bei stationärer
Pflege nicht nachweisbar. Es liegen keine Daten vor, die dafür
sprechen, dass Kinderlose häufiger stationäre Pflege in Anspruch
nehmen als Pflegebedürftige mit Kindern. Allerdings bestehen bei
der ambulanten Pflege Unterschiede. Die Gesamtausgaben für
kinderlose Pflegebedürftige ab 60 liegen rund 10% höher als die
Ausgaben für die gleiche Altersgruppe mit Kindern. Dies kann
darin begründet sein, dass Pflegebedürftige für pflegende Töchter
und Schwiegertöchter nur das niedrigere Pflegegeld nach der
Pflegeversicherung beziehen, während Kinderlose häufiger die
Sachleistungen durch professionelle Pflegedienste in Anspruch
nehmen. Insgesamt sind die Mehrausgaben für Kinderlose in den höheren
Altersgruppen jedoch maßvoll. Es ist gerade Ausdruck des
solidarischen Ausgleichs durch die Pflegeversicherung,
Pflegeleistungen für solche Menschen zur Verfügung zu stellen,
die nicht auf pflegende Familienangehörige zurückgreifen können.
Außerdem kann für die Zukunft nicht zuverlässig angenommen
werden, dass Pflegebedürftige von ihren Kindern gepflegt werden.
3. Der Erste Senat stellt jedoch eine verfassungswidrige
Benachteiligung von Eltern auf der Beitragsseite der sozialen
Pflegeversicherung fest. Er geht dabei davon aus, dass das Risiko,
pflegebedürftig zu werden, jenseits der 60 deutlich und jenseits
der 80 sprunghaft ansteigt. Pflegebedürftige sind deshalb auf die
Pflegeversicherungsbeiträge der nachwachsenden Generation
angewiesen. Auf Grund dieses Umlagesystems profitieren die
Kinderlosen von der Erziehungsleistung der Eltern. Beide sind
darauf angewiesen, dass genug Kinder nachwachsen, die in der
Zukunft Beiträge zahlen und ihre Pflege finanzieren. Dies ist
unabhängig davon, ob sie selbst Kinder erzogen und damit zum
Erhalt des Beitragszahlerbestandes beigetragen haben oder nicht.
Kinderlosen, die lediglich Beiträge gezahlt, zum Erhalt des
Beitragszahlerbestandes aber nichts beigetragen haben, erwächst
daher ein Vorteil. Zwar finanzieren sie mit ihren Beiträgen auch
die Abdeckung des Pflegerisikos der beitragsfrei versicherten
Ehegatten und Kinder mit. Insgesamt wird der Vorteil, den
Kinderlose durch das Aufziehen der nächsten Generation erlangen,
durch die Umlage für die Familienversicherten aber nicht
aufgezehrt.
Nach
oben
Dieser systemspezifische Vorteil für Kinderlose in der sozialen
Pflegeversicherung unterscheidet sich von dem Wohl, das aus der
Erziehung und Betreuung von Kindern für die Gesellschaft im
Allgemeinen erwächst. Kindererziehung liegt im gesellschaftlichen
Interesse. Das allein gebietet noch nicht, sie in einem bestimmten
sozialen Leistungssystem von Verfassungs wegen zu berücksichtigen.
Wenn aber das Leistungssystem ein altersspezifisches Risiko
abdeckt und so finanziert wird, dass die jeweils erwerbstätige
Generation die Kosten für vorangegangene Generationen mittragen
muss, ist für das System nicht nur die Beitragszahlung, sondern
auch die Kindererziehung konstitutiv. Wird die zweite Komponente
nicht mehr regelmäßig von allen geleistet, werden Eltern
spezifisch in diesem System belastet, was deshalb auch innerhalb
des Systems ausgeglichen werden muss. Allerdings kann der
Gesetzgeber die Benachteiligung von Eltern solange vernachlässigen,
wie eine deutliche Mehrheit der Versicherten Kinder bekommt und
betreut. Dies folgt aus dem Recht des Gesetzgebers zur
Generalisierung. Trägt die große Mehrheit der Beitragszahler
daneben durch Erziehung und Betreuung von Kindern zum System bei,
ist das System im Großen und Ganzen im generativen Gleichgewicht.
Solange liegt es auch innerhalb des gesetzgeberischen
Gestaltungsspielraums, die Beiträge nicht danach zu
differenzieren, ob Kinder erzogen werden oder nicht. Die Einführung
des SGB XI im Jahr 1994 ohne Kindererziehungskomponente überschreitet
jedoch den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum. Denn schon 1994
war bekannt, dass die Zahl der Kinderlosen in der Gesellschaft
drastisch ansteigt. Der Gesetzgeber konnte nicht davon ausgehen,
dass die große Mehrheit der Versicherten sowohl Beiträge zahlen
als auch Kinder erziehen würde. Der Senat setzt sich mit den von
den Sachverständigen vorgelegten Statistiken über die Bevölkerungsentwicklung
auseinander, die ein deutliches Absinken der Bevölkerung und eine
Veränderung der Altersstruktur prognostizieren. Bereits 1989 ging
das Statistische Bundesamt davon aus, dass die Bevölkerung der
Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 2030 um 10% zurückgehen
und ein Drittel der Bewohner 60 Jahre und älter sein würde. Es
war abzusehen, dass die Relation zwischen jüngeren
Beitragszahlern und älteren Pflegebedürftigen sich stetig
verschlechtert. Andererseits ist nicht zu erwarten, dass das
Pflegerisiko älterer Menschen wesentlich sinken wird. Insgesamt müssen
weniger Beitragszahler die Pflege der älteren Generation
finanzieren und die Kosten der Kindererziehung tragen. Ein
gleicher Versicherungsbeitrag führt damit zu erkennbarem
Ungleichgewicht zwischen dem Gesamtbeitrag der Eltern
(Kindererziehung und Geldbeitrag) und dem Geldbeitrag der
Kinderlosen. Die hieraus resultierende Benachteiligung von Eltern
ist im Beitragsrecht auszugleichen.
4. Da dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung der
Verfassungswidrigkeit der bestehenden Regelung offen stehen, sind
die einschlägigen Normen nur als unvereinbar mit dem GG zu erklären.
Sie können ausnahmsweise bis zum 31. Dezember 2004 weiter
angewendet werden. Dies resultiert aus dem Gesichtspunkt der
Rechtssicherheit und dem Umstand, dass der Gesetzgeber prüfen
muss, welche Wege einer verfassungsgemäßen Gestaltung der
Pflegeversicherung in Betracht kommen. Bei der Bemessung der Frist
hat der Senat berücksichtigt, dass die Bedeutung der Entscheidung
auch für andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen ist. Wie
der Gesetzgeber die erforderliche relative Entlastung der
kindererziehenden Beitragszahler vornimmt, kann er im Rahmen
seines Spielraums selbst entscheiden. Sie muss aber den Eltern während
der Zeit zugute kommen, in der sie Kinder betreuen und erziehen.
Der Ausgleich kann nicht durch unterschiedliche Leistungen im
Falle der Pflegebedürftigkeit erfolgen. Es ist geboten, bereits
die Unterhaltspflicht gegenüber einem Kind zu berücksichtigen.
d) Der Schwerpunkt der Verfahren 1 BvR 1681/94, 2491/94 und 24/95
liegt in der Prämiengestaltung der privaten Pflegeversicherung.
Die privat krankenversicherten Bf wenden sich dagegen, nicht in
den Genuss des für sie günstigeren Beitragsrechts der sozialen
Pflegeversicherung gelangen zu können. Zudem wenden die Bf sich
teilweise dagegen, dass Kindesunterhalt und - betreuung bei der
Berechnung der Prämienhöhe in der privaten Pflegeversicherung
nicht berücksichtigt werden.
Der Erste Senat hat die Vb, soweit sie zulässig sind, zurückgewiesen.
Zur Begründung heißt es unter teilweiser Bezugnahme auf die
unter a) bis c) bereits dargestellten Urteile im Wesentlichen:
1. Die gesetzliche Verpflichtung, einen privaten
Pflegeversicherungsvertrag abzuschließen, verstößt nicht gegen
Art. 2 Abs. 1 GG. Sie ist insbesondere auch verhältnismäßig;
ein Zutritt zur sozialen Pflegeversicherung für die privat
Krankenversicherten musste vom Gesetzgeber nicht ermöglicht
werden. Die Konzeption der gesetzlichen Pflegeversicherung als
zweigliedriges System von sozialer und privater Pflegeversicherung
liegt innerhalb des gesetzgeberischen Spielraums. Gleiches gilt für
die von ihm vorgenommene Zuordnung der gesetzlich
Krankenversicherten zur sozialen Pflegeversicherung und der privat
Krankenversicherten zur privaten Pflegeversicherung. Wie der Senat
ausführt, haben die meisten Bürger innerhalb der ersten drei
Lebensjahrzehnte Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung und können
sich auch bei Beendigung der gesetzlichen
Krankenversicherungspflicht freiwillig gesetzlich
weiterversichern. Dementsprechend handelt es sich bei den privat
Krankenversicherten zum größten Teil um Bürger, die -
jedenfalls bei Vertragsabschluss - über ein höheres Einkommen
verfügten und sich gegen die Weiterversicherung in der
gesetzlichen Krankenversicherung entschieden haben. Daran durfte
der Gesetzgeber bei der Zuordnung zur Pflegeversicherung anknüpfen.
Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn er die
Mitgliedschaft in der sozialen Pflegeversicherung danach abgrenzt,
wer bei typisierender Betrachtungsweise zur Bildung dieser
Solidargemeinschaft erforderlich und wer des solidarischen
Schutzes bedürftig ist. Das Wahlrecht der freiwillig gesetzlich
Krankenversicherten hinsichtlich der Art der Pflegeversicherung
folgt daraus, dass diese auch aus der gesetzlichen
Krankenversicherung jederzeit ausscheiden können.
Nach
oben
2. Es liegt kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3
Abs. 1 GG) darin, dass die Prämienlast in der privaten
Pflegeversicherung im Einzelfall höher ausfallen kann als der
Beitrag vergleichbarer Versicherter in der sozialen
Pflegeversicherung. Ist nämlich - wie dargelegt - die grundsätzliche
Zuordnung der Versicherten teils in die soziale und teils in die
private Pflegeversicherung mit dem Grundgesetz vereinbar, dann ist
auch eine im Einzelfall höhere Prämie in der privaten
Pflegeversicherung verfassungsrechtlich unbedenklich. Dies folgt
aus der unterschiedlichen Gestaltung der Versicherungssysteme, nämlich
der Orientierung am Einkommen in der sozialen Pflegeversicherung
und am individuellen Pflegerisiko in der privaten
Pflegeversicherung. Zudem begrenzt das Gesetz die Prämie in der
privaten Pflegeversicherung bei entsprechenden
Vorversicherungszeiten auf den Höchstbeitrag in der sozialen
Pflegeversicherung und auf 150% des Höchstbetrages für Ehepaare,
bei denen ein Partner kein oder nur ein geringfügiges Einkommen
hat. Die typisierende Unterstellung des Gesetzgebers, privat
Krankenversicherte seien in der Regel zur - in dieser Weise -
begrenzten Prämienzahlung in der Lage, ist nicht zu beanstanden.
Ob bei erheblicher wirtschaftlicher Verschlechterung gegenüber
dem Zeitpunkt des Abschlusses des Krankenversicherungsvertrages im
Wege einer Härtefallregelung anderes gelten muss, wenn dieser
Vertragsschluss vor Inkrafttreten des SGB XI liegt, ist hier nicht
zu entscheiden. Keiner der Bf hat eine existentielle Belastung
durch die Pflegeversicherungsprämien dargelegt.
3. Der Umstand, dass Betreuung und Erziehung von Kindern in der
privaten Pflegeversicherung nicht prämienmindernd berücksichtigt
wird, verletzt weder Art. 6 Abs. 1 noch Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art.
6 Abs. 1 GG. Art. 6 Abs. 1 GG fordert weder in der sozialen
Pflegeversicherung noch in der privaten Pflegeversicherung die Berücksichtigung
von Kindererziehungsleistungen bei der Prämien- bzw.
Beitragsgestaltung. Zwar strahlt die Vorschrift auf das
Privatrecht und damit auch auf das private Versicherungsrecht aus.
Es liegt jedoch innerhalb des gesetzgeberischen Spielraums bei der
Erfüllung des staatlichen Förderauftrags für Familien, wenn der
Staat Versicherungsunternehmen nicht vorschreibt, die
Erziehungsleistung bei der Prämiengestaltung zu berücksichtigen.
Der Familienlastenausgleich wird zudem durch die prämienfreie
Mitversicherung von Kindern und die Begrenzung der Prämie für
Eheleute, von denen nur einer Einkommen erzielt, berücksichtigt.
Auch Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG ist nicht verletzt. Die
private Pflegeversicherung wird im Anwartschaftsdeckungsverfahren
finanziert. Sie ist nicht wie die soziale Pflegeversicherung, die
auf dem Umlageverfahren beruht, auf die Prämienzahlungen der
nachwachsenden Generation angewiesen. Deshalb lässt sich -
zumindest derzeit - ein Verfassungsverstoß nicht feststellen.
Allerdings enthält das System der privaten Pflegeversicherung
schon jetzt Umlageelemente (§ 110 SGB XI). Dies und die
prognostizierte Bevölkerungsentwicklung kann dazu führen, dass
auch die private Pflegeversicherung immer stärker von
Umlageelementen geprägt wird und sich an die soziale
Pflegeversicherung angleicht. Dem Gesetzgeber obliegt es dann zu
prüfen, ob auch die Funktionsfähigkeit der privaten
Pflegeversicherung auf Dauer vom Nachwachsen neuer Prämienzahler
abhängt. Dann muss der generative Beitrag wie in der sozialen
Pflegeversicherung berücksichtigt werden.
Urteile vom 3. April 2001
- Az. 1 BvR 2014/95, 1 BvR 81/98, 1 BvR 1629/94, 1 BvR 1681/94, 1
BvR 2491/94, 1 BvR 24/95 -
Karlsruhe, den 3. April 2001
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