Beeinflussung
der sexuellen Entwicklung physisch eingeschränkter
Kinder/Jugendlicher |
Die
Eltern
Entscheidend für die sexuelle Entwicklung sind die Eltern, als die
Bezugspersonen, und ihre Einstellung zu ihrem physisch eingeschränkten
Kind als sexuelles Wesen und als Förderer oder Nicht-Förderer ihrer
Sexualität.
Den Eltern fällt es häufig sehr schwer zu akzeptieren, das physisch
oder intellektuell beeinträchtigte Menschen sexuelle Bedürfnisse
haben und diese entwickeln.
In die Erziehung fließt kaum die Thematik der Sexualität mit ein,
viele Eltern fühlen sich auf diesem Gebiet einfach überfordert.
Motorisch eingeschränkten Kindern oder Jugendlichen wird häufig auch
die Fähigkeit abgesprochen, die typisch weiblichen oder männlichen
Geschlechtsrollen übernehmen zu können. Eine Auseinandersetzung mit
der eigenen geschlechtlichen Identität ist meist nicht möglich.
Diese Nicht-Fähigkeit wird ihnen vermittelt, weil sie den gängigen
Rollenklischees wegen ihrer physischen Einschränkung nur bedingt genügen
können.
Für den Mann stehen Assoziationen wie Aktivität, Selbständigkeit
und Potenz. Ausgehend von der Schwere der physischen Einschränkung
kann ein männlicher Heranwachsender diesem Klischee nur begrenzt
entsprechen. Die Folge kann ein Identitätsverlust sein.
Es wachsen Befürchtungen den Ansprüchen einer Partnerin, besonders
den sexuellen, nicht genügen zu können. Diese Angst kann sich in
sexueller Enthaltsamkeit ausdrücken.
Für die weibliche Geschlechtsidentität stehen eher Maßgaben der ästhetisch-sexuellen
Normen im Vordergrund.
Bereits bei der Anbahnung einer Beziehung wirken sich diese
gesellschaftlichen Vorgaben negativ für motorisch beeinträchtigte Mädchen
und Frauen aus, obwohl sie wiederum dem Klischee der passiven
Sexualpartnerin entspricht. Allerdings kann ein physisch eingeschränktes
Mädchen den Rollenerwartungen als Hausfrau und Mutter nicht oder nur
bedingt entsprechen. Dies kann sich hemmend auf das Eingehen von
Beziehungen auswirken (vgl. WEINWURM-KRAUSE, 1990, S. 69).
Spüren physisch eingeschränkte Kinder und Jugendliche bereits
selbst, dass sie diesen gängigen Geschlechtsrollenklischees nicht
oder nur teilweise entsprechen können, so wird dies von den Eltern häufig
noch verschärft. So geht dies z. B. aus dem Bericht einer jungen
motorisch beeinträchtigten Frau hervor, die über ihre Erziehung und
der Einstellung ihrer Eltern zu ihrer Weiblichkeit in
"GESCHLECHT: BEHINDERT, BESONDERES MERKMAL: FRAU (1990)
berichtet:
"Zum einem zählt Haushaltsführung nach allgemeiner Überzeugung
nicht zum Aufgabenkreis des Mannes. Zum anderen stand für meine
Mutter fest, dass ich niemals einen Partner finden würde. Meine
Konfirmation wurde z. B. groß gefeiert mit der Begründung, eine spätere
Heirat sei ausgeschlossen und da solle mich diese Feier für eine
Hochzeit entschädigen. Daß mir damit die Lust am Feiern vergangen
war, liegt auf der Hand. ".
Als "Ersatz" dafür, dass Sexualität und eine eventuelle
Heirat so gut wie ausgeschlossen sind, legen viele Eltern physisch
eingeschränkter Kinder einen besonderen Wert auf eine gute
Ausbildung.
Auch hierzu ein Kindheitsbericht aus "GESCHLECHT: BEHINDERT,
BESONDERES MERKMAL:
FRAU (1990): "Als meine Behinderung immer sichtbarer wurde, und
ich mit vierzehn Jahren einen Rollstuhl brauchte, entsprach ich nicht
mehr der Norm einer Frau in unserer Gesellschaft, nämlich
gutaussehend, eine perfekte Hausfrau, nur für den Mann und die Kinder
da zu sein. Jetzt stellte sich ja eher die Frage, ob ich überhaupt
jemals Mann und Kinder haben würde. Einen Haushalt würde ich ja auch
nicht alleine führen können. Nun blieb mir nur noch eine gute
Ausbildung. ".
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In den Augen der Eltern erhöht sich die Chance ihres motorisch
eingeschränkten Kindes für eine Beziehung oder eventuelle Heirat
durch eine gute Ausbildung und später einen möglichst guten Job.
Viele Eltern physisch beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher sind
zu übervorsorglich. Sie überhüten ihr Kind, um es vor Verletzungen
durch andere zu bewahren und sie Befürchtungen vor der sexuellen
Entwicklung ihres Kindes haben.
So werden z. B. motorisch eingeschränkten Kindern und Jugendlichen
sehr viel restriktivere Wertvorstellungen vermittelt, als sie tatsächlich
in unserem Normdenken vorliegen.
Mit einer Überhütung können Eltern jeglichen Kontakt ihres physisch
eingeschränkten Kindes nach außen isolieren. Bekommt es jedoch nicht
die Gelegenheit Kontakte mit anderen zu knüpfen und die elterlichen
Wertvorstellungen in Frage zu stellen und dagegen zu rebellieren, dann
wird es als Erwachsener Probleme mit seiner sexuellen Entwicklung
bekommen.
Denn die Erfahrungen eines nicht eingeschränkten Jugendlichen, der
sich durch äußere Kontakte zu Altersgenossen seine Sexualerziehung
praktisch und theoretisch erweitern kann, fehlen dem motorisch beeinträchtigten
Jugendlichen dann oftmals.
WEINWURM-KRAUSE (1990) führte eine Befragung unter 158 Probanden mit
physischer Einschränkung durch, die ihre noch heute für sie
bestehende Auswirkung der elterlichen Sexualerziehung einschätzen
sollten.
Die
Schul- und Heimsituation
An Sonderschulen wird die Thematik der Sexualerziehung vollkommen
tabuisiert, besonders dann, wenn es sich um eine konfessionell
gebundene Schuleinrichtung handelt.
Die Zielsetzung von Lehrern müsste jedoch sein, dem heranwachsenden
physisch eingeschränkten Jugendlichen eine positive Haltung zur
Sexualität zu vermitteln. Ist ihm dies nicht möglich, so müsste er
zumindest eine informative Funktion haben, die den Schülern
kommunikative Fähigkeiten nahe bringt, die sie eventuell vor
sexuellem Missbrauch, Ausnutzung oder Schwangerschaft bewahren können.
Es ist wichtig über alternative Formen des Genitalsex aufzuklären,
wie z. B. Masturbation oder Oralsex.
Besonders schwierig ist ein normaler sexueller Entwicklungsverlauf für
diejenigen physisch eingeschränkten Kinder und Jugendlichen, die in
einem Heim oder einer anderen institutionellen Einrichtung leben.
Viele Heime sind auch heute noch geschlechtergetrennte Einrichtungen.
Es gibt also häufig sehr wenig Möglichkeiten Kontakte zum anderen
Geschlecht aufzubauen. Vom Personal werden die Jugendlichen
herablassend, häufig wie kleine Kinder behandelt, um sie besser unter
Kontrolle zu haben. Für die Jugendlichen jedoch wird es durch diesen
Umgang mit ihnen sehr viel schwieriger unabhängig zu sein und neue
Bekanntschaften einzugehen.
Fällt die Möglichkeit zum Ausgehen und Treffen auch mit nicht
eingeschränkten Jugendlichen weg, kann sich der Prozess zum
Erwachsenwerden verzögern.
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